Bewertung von Unternehmensvermögen in Zeiten hoher Inflation
Unterscheidung des zeitlichen Horizonts
Der IDW-Standard: Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S 1 i.d.F. 2008) legt die Grundsätze dar, nach denen Wirtschaftsprüfer:innen Unternehmen bewerten. Nach IDW S 1 i.d.F. 2008, Tz. 7, wird der Unternehmenswert grundsätzlich als Zukunftserfolgswert und somit anhand der künftigen finanziellen Überschüsse der Unternehmen ermittelt. Da hierbei i. d. R. von einer unbegrenzten Lebensdauer auszugehen ist, sind sowohl kurz-, mittel- als auch langfristige Erwartungen u. a. zur Inflation relevant. In der aktuellen Situation besteht indes die Gefahr, die Relevanz der bestehenden Lieferkettenprobleme, Nachfrageüberhänge sowie der hohen Inflation langfristig zu überschätzen.
Kurz- und mittelfristige Sichtweise (Detailplanungsphase)
Für die Prognose der finanziellen Überschüsse in der nahen Zukunft sind die aktuell bestehenden Schwierigkeiten und die daraus folgende hohe Inflation von besonderer Relevanz. Im Hinblick auf die Inflation ist bei aktuellen Bewertungsstichtagen u. a. zu analysieren, welche Preissteigerungen sich bereits unmittelbar im Jahr 2022 ausgewirkt haben (z. B. Treibstoffkosten) und bei welchen Themen sich dies aufgrund bestehender Vereinbarungen bzw. Verträge erst im Jahr 2023 oder später auswirken wird (z. B. Personalaufwendungen oder Strom). Hierbei ist sowohl die Aufwands- als auch die Ertragsseite zu beachten. Daher ist auch zu analysieren, zu welchem Teil die Preissteigerungen bereits an Kunden weitergegeben werden konnten und welche Preissteigerungen ggf. erst in Folgejahren oder z. B. aufgrund von wegfallenden Lieferkettenproblemen künftig nicht mehr weitergegeben werden können.
Ferner ist zu untersuchen, bei welchen Inputfaktoren im Jahr 2023 bzw. in den folgenden Jahren nicht nur von einer verringerten Inflation, sondern aufgrund einer Normalisierung sogar gegenüber dem Jahr 2022 von Preisrückgängen auszugehen ist.
Im Hinblick auf die Normalisierung stellt sich dann die Frage nach dem künftigen Niveau (Vorkrisenniveau oder New Normal). Beispielhaft kann dies anhand des Rohölpreises verdeutlicht werden. In den Jahren 2017 bis 2019 lag der Rohölpreis für die Sorte Brent im Durchschnitt bei rd. 63 USD pro Barrel. Im Jahr 2022 ist der Rohölpreis in der Spitze auf rd. 130 USD pro Barrel gestiegen und hat sich bis April 2023 bereits auf rd. 80 USD pro Barrel reduziert. An den Terminmärkten wird aktuell bis zum Jahr 2027 ein Preis von rd. 66 USD pro Barrel und somit fast eine Normalisierung auf das Ausgangsniveau vor den Krisen erwartet (S&P Capital IQ).
Langfristige Sichtweise (Ewige Rente)
Das Wachstum der finanziellen Überschüsse eines Unternehmens, z. B. auch aufgrund der Inflation, wird in einer kurz- und mittelfristigen Planungsphase explizit berücksichtigt. In der langfristigen Sichtweise (Ewige Rente) wird es üblicherweise bewertungstechnisch durch den sog. Wachstumsabschlag im Zinssatz berücksichtigt.
Hinsichtlich des nachhaltigen preisbedingten Wachstums eines Unternehmens bildet die allgemeine Inflationserwartung einen ersten Anhaltspunkt. Aus dem Vergleich von inflationsgeschützten und nicht-inflationsgeschützten deutschen Staatsanleihen lässt sich aktuell eine langfristige Inflationserwartung für Deutschland von rd. 2,5 % ableiten (eigene Berechnungen auf Basis von S&P Capital IQ). Diese liegt zwar oberhalb der langfristigen Inflationserwartung der Jahre 2017 bis 2019 von rd. 1,6 %, indes aber signifikant unterhalb der aktuellen Inflation. Der International Monetary Fund (IMF) erwartet für Deutschland für das Jahr 2023 eine Inflation in Höhe von 6,2 % und bis 2027 eine Reduktion auf ein Niveau von 2,0 % (IMF, World Economic Outlook Database, April 2023). Demnach wird sowohl mittel- als auch langfristig eine Normalisierung angenommen.
Neben der Entwicklung der Preissteigerungen auf der Beschaffungsseite hängt das langfristige Wachstum der finanziellen Überschüsse eines Unternehmens vor allem von der Möglichkeit ab, die Preissteigerungen auf der Beschaffungsseite an die Kunden weiterzugeben. Überlegungen zur langfristigen Weitergabe von Preissteigerungen sollten berücksichtigen, dass diesbezüglich nicht kurzfristig vorliegende Lieferkettenprobleme und Nachfrageüberhänge mit ggf. positiven Auswirkungen relevant sind, sondern eine langfristige Sichtweise zu berücksichtigen ist. Zwar gibt es Branchen, in denen es viele Jahre dauert, strukturelle Überhänge zu beseitigen (z. B. Immobilienbranche). Indes kann bei einer Vielzahl von Branchen angenommen werden, dass kurzfristige Angebots-/Nachfrageüberhänge zumindest langfristig beseitigt werden.
Im Ergebnis ist somit festzustellen, dass die aktuelle Situation mit hoher Inflation, Nachfrageüberhängen und Lieferkettenproblemen in der Unternehmensbewertung kurz- und mittelfristig zu berücksichtigen ist. Im Hinblick auf die langfristige Sichtweise ist indes zu analysieren, auf welchem Niveau eine Normalisierung angenommen werden kann und welche Preissteigerungen langfristig überwälzt werden können. Hierbei ist immer eine individuelle Analyse unter Beachtung des Geschäftsmodells erforderlich.
Praxishinweis
Die aktuelle Situation mit hoher Inflation, Nachfrageüberhängen und Lieferkettenproblemen sind in der Unternehmensbewertung kurz- und mittelfristig zu berücksichtigen, jedoch ist langfristig oftmals eine Normalisierung der Verhältnisse anzunehmen.